In den letzten Jahren treten im Kernbereich unserer Branche immer wieder forschungsethische Fragen auf, die sich nicht immer nur ideologisch, sondern häufig auch sehr praktisch bemerkbar machen.
Ein Beispiel: Wenn man in einer Befragung beim Geschlecht neben „männlich“ und „weiblich“ die Option „divers“ anbietet, bekommt man in geringem Umfang entsprechende Antworten. Für die statistische Auswertung sind die Fallzahlen jedoch meist viel zu gering, um belastbare Aussagen über das Dritte Geschlecht treffen zu können. Sollte man also auf die Antwortoption „divers“ verzichten? Oder wiegt das Angebot erschöpfender Antwortmöglichkeiten im Fragebogen höher? Muss man die Fallzahl für das Dritte Geschlecht vielleicht über Quoten erhöhen? Ignoriert man diese Fälle bei der Analyse einfach? Oder rechnet man nicht-binäre Studienteilnehmer nachträglich ganz pragmatisch den Männern oder Frauen zu? Es ist verzwickt.
Ein anderes Beispiel ist die barrierefreie Gestaltung von Onlinefragebögen. Für Menschen mit Behinderungen, – ob Wahrnehmung oder Beweglichkeit betreffend -, können Formulare technisch so gestaltet werden, dass die Bildschirminhalte mit Hilfsprogrammen vorgelesen werden können und es die Dateneingabe prinzipiell offenlässt, welches Eingabemedium der User bedient. Für die meisten Webseiten ist Accessibility bereits mehr oder weniger Standard (insb. mit ARIA); bei Onlinefragebögen bleiben barrierefreie Angebote dagegen viel zu häufig die Ausnahme. Hier werden methodische Vorbehalte in Bezug auf die Vergleichbarkeit von Daten, die Realisierung bestimmter Fragetechniken (z.B. Reaktionszeitmessungen) und nicht zuletzt die Angst vor sog. Incentive-Jägern (die sich ja so leichter durchklicken könnten) ins Feld geführt. Umgekehrt scheint der relevante Marktanteil von Menschen mit Behinderung häufig zu gering, als dass deren Meinung in der Forschung eine Rolle spielt. Inklusion sieht jedenfalls anders aus.
Und wie steht es denn im Zweifelsfall um unsere Handlungsempfehlungen an einen Kunden, wenn die Konsumenten in der Forschung dunkelhäutige Menschen auf Werbemotiven ablehnen? Gibt man den rassistischen Vorurteilen nach, um die Wirksamkeit der Kampagne zu erhöhen und versteckt sich hinter den Daten? Sucht man nach Perspektiven, um sich über diese Vorbehalte hinwegzusetzen -, vielleicht mit dem Ansinnen, langfristig eine breitere Käuferschicht für die Marke zu gewinnen? Tritt Forschung hier also als neutrale und objektiv Instanz auf, die keine moralische Bewertung der Ergebnisse vornimmt? Oder sehen wir uns als Treiber des gesellschaftlichen Fortschritts, für mehr Beteiligung und weniger Ausgrenzung?
Das alles sind keine einfachen Fragen, und es gibt sicherlich auch keine einfachen Antworten. Allerdings scheint es derzeit eine Häufung solcher forschungsethischen Imperative an die Marktforschung zu geben. Getrieben von der Digitalisierung hat sich die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Soziale Medien geben Minderheiten eine breitere Öffentlichkeit, sorgen aber auch für Filterblasen, in denen man den Blick fürs große Ganze verlieren kann. Moderne Technologien wie künstliche Intelligenz und Cloud Computing werfen neue Fragestellungen auf und die Gesellschaft ringt täglich um den richtigen Umgang mit diesen Veränderungen.
Im Vergleich dazu scheint die Diskussion forschungsethischer Fragen in der Marktforschung geradezu auf der Stelle zu treten. Die drei obigen Beispiele wurden durchaus mit Bedacht gewählt, denn sie drehen sich gerade nicht um unsere Lieblingsthemen „Freiwilligkeit / Informierte Einwilligung“ oder „Anonymisierung“ (die in Hinblick auf die passive Erhebung von Verhaltensdaten natürlich trotzdem aktueller sind denn je). Unsere Blindheit für andere forschungsethische Themenfelder birgt jedoch eine Gefahr, denn natürlich reicht es vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels nicht, sich selbstgefällig auf den altgedienten Standards auszuruhen. Forschungsethik ist ein kontinuierlicher Prozess der Aushandlung und geht weit über die einschlägigen Guidelines der Branchenverbände hinaus.
Am Horizont der technischen Entwicklung sehen wir ja schon heute Fragestellungen, die den Selbstverpflichtungen unserer Branche vorausgehen. Wie sind Systeme mit künstlicher Intelligenz zu bewerten, die für den Menschen Entscheidungen treffen? Wer trägt die Verantwortung für Fehlentscheidungen und wie lassen sie sich ggf. korrigieren? Welche Aufgaben sollten überhaupt an Maschinen übertragen werden und wieviel Kontrolle muss der Mensch behalten? Wie steht es um den Machine Bias, bei dem diskriminierende Wertvorstellungen von Algorithmen verstärkt und in die Systeme eingeschrieben werden? Wie kann man die Wirkungsweise von Algorithmen transparenter machen, ohne das Geschäftsgeheimnis der Betreiber solcher Algorithmen zu verletzen? In diesen und anderen Themen sind wir noch lange nicht zuhause, und es kommen in Zukunft eher neue Fragestellungen hinzu. Daran vorbeikommen werden wir jedoch nicht.
Dass wir uns aber in diesem Diskurs stärker engagieren sollten ist durchaus in unserem eigenen Interesse. Nach wie vor ist Meinungsforschung in besonderer Weise auf die Akzeptanz in der Bevölkerung angewiesen. Allein, wie viel Aufwand wurde in den letzten Jahrzehnten betrieben, um „gute“ Marktforschung von „böser“ Verkaufsförderung abzugrenzen? Klare forschungsethische Positionen waren immer auch eine Grundlage unserer Daseinsberechtigung. Deshalb reicht es auch nicht, wenn man sich auf den Standpunkt zurückzieht, dass man ja nur das Lied dessen singt, wessen Brot man isst. Schließlich haben wir ein zweiseitiges Geschäftsmodell und sind deshalb immer in der Rolle des Vermittlers zwischen Studienteilnehmern und Unternehmen, – eine Bedingung, die in der Praxis die Auseinandersetzung mit Ethik zugegebenermaßen nicht einfacher macht.
Davor zurückschrecken sollten wir aber auch nicht. Gerade durch unsere Erfahrung als Mittler haben wir die einzigartige Chance Lösungen zu entwickeln, die für alle Seiten tragfähig sind. Natürlich dürfen wir uns durch Selbstbeschränkungen nicht das eigene Wasser abgraben. Natürlich müssen wir auch weiterhin Geld verdienen. Denn natürlich wollen auch weiterhin Mieten und Gehälter bezahlt werden. Es wäre allerdings schon viel gewonnen, wenn wir insgesamt sensibler für forschungsethische Fragen würden, offener und (selbst-)kritischer über diese Herausforderungen diskutieren und aktiv Handlungsspielräume nutzen, die wir in unserem Alltag haben.
Dieser Artikel ist zuerst auf marktforschung.de erschienen.