Die Teilnahme lohnt sich! Wirklich?

Bei uns im Büro ist es richtig schön. Der Kaffee ist gut und das Internet schnell. Warum also sollte ich mich von meinem Schreibtisch wegbewegen und auf eine Messe fahren? Das geht doch heutzutage auch alles online.

1. Die Messe der Zukunft

Eine virtuelle Marketingmesse in den USA etwa. Ich logge mich ein und betrete die digitale Messehalle. Im Ausstellerverzeichnis suche ich mir einen spannenden Anbieter aus und öffne mit einem Klick den Online-Stand des gewünschten Unternehmens. Wie auf einer Webseite kann ich mir hier einen groben Überblick über das Angebot verschaffen, zusätzlich stehen mir auch Mitarbeiter im Live-Chat zur Verfügung. Ich werde sofort mit Namen angesprochen, anonyme Standbesucher gibt es auf solchen Messen selbstverständlich nicht. Was es hier allerdings schon gibt, ist ein begleitendes Workshop-Programm mit Webinaren. Durch die Zeitverschiebung wird das für mich heute wohl eine lange Nacht.

Am nächsten Morgen das Resümee. Fest steht, dass virtuelle Messen für alle Beteiligten kostengünstiger sind; Reisekosten fallen überhaupt nicht an. Und weil es auch keine gedruckten Broschüren und Give-Aways gibt, dürfte das ebenfalls die Umwelt freuen. Die Teilnehmer kamen laut Veranstalter aus aller Herren Länder; ich bin dafür ja schon ein Beispiel. Und für zusätzliche Reichweite sorgten die integrierten Social Media Angebote auf der Plattform; die Schwelle zur Kontaktaufnahme mit anderen Teilnehmern war dadurch denkbar gering. Zu guter Letzt, und davon dürften vor allem die Aussteller profitiert haben, waren alle Interaktionen mit und auf der Plattform perfekt dokumentiert: wer mit wem geredet hat, welche Profile und Interessen die Besucher haben, und vieles mehr. Ich wurde in den Wochen darauf jedenfalls mit Akquise-Emails überflutet. Ist das die Messe der Zukunft?

2. Workshops und Networking

Fest steht, dass bei den meisten realen Veranstaltungen irgendetwas nicht mehr richtig funktioniert. Viele Besucher scheinen regelrecht eine Gratwanderung machen zu müssen: erst noch flanieren sie ganz unaufgeregt durch die Gänge und scannen die Aussteller, während sie gleichzeitig sehr bemüht Desinteresse vortäuschen und jeden Blickkontakt mit dem Standpersonal vermeiden. Werden sie dann doch unerwartet in ein Gespräch verwickelt, hilft nur noch der Verweis auf den nächsten Vortrag als Rettung: “Ich muss jetzt leider los, den Workshop hatte ich mir angestrichen!” Und so werden die Präsentationen oft genug als Pausenraum im Networking-Chaos genutzt. Hier sitzen sie dann und lassen sich berieseln, bevor sie wieder angespannt durch die Messehallen schleichen. Ja, irgendwie scheint es, als seien Messen gar keine Orte der Begegnung, sondern eher Orte der Kontaktvermeidung.

Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken habe ich schon auf vielen Events die seltsamsten Dinge erlebt. Zu den Klassikern gehört es, das Publikum zu Beginn eines Tracks mit irgendwelchen Aktivitäten aufzumuntern: “Aufstehen, nach rechts drehen, Hände auf die Schultern des Nachbarn, Massage geben! Umdrehen, den Gefallen erwidert bekommen!“ Solch ein Animationsprogramm mag kuriose Bilder für den Blog des Veranstalters abgeben, richtig kennengelernt habe ich dadurch aber noch niemand. Ebenfalls bemerkenswert: auf einer Konferenz für Software-Entwickler werden Speed-Dating-Runden für die Besucher angeboten, um die kontaktfreudigen Teilnehmer miteinander ins Gespräch zu bringen.

Die eigentliche Frage lautet aber, warum ich überhaupt an einem Event teilnehmen sollte, wenn ich mir ohnehin nur Fachvorträge anhören möchte? Das kann ich wirklich auch bequemer vor dem Bildschirm im Büro haben, denn machen wir uns nichts vor: Jeder Vortrag ist irgendwie nur ein nett verpackter Pitch, den man bei Bedarf jederzeit gut nachholen kann. Insofern kann der eigentliche Wert einer Messe- oder Konferenzteilnahme aber nur der persönliche Kontakt sein.

3. Der Leadbogen als Trophäe

Dabei liegt das gar nicht mal nur an den Besuchern, auch auf Seiten der Aussteller gibt es Gründe für die zunehmende Kontaktvermeidung. Immer mehr Institute unterhalten ein spezialisiertes Vertriebsteam, die sorgsam priorisieren, für welchen Kontakt wieviel Zeit verwendet werden darf. Was das konkret bedeuten kann, merkt man, wenn das Gegenüber im Gespräch gar nicht mehr richtig zuhört, sondern nur noch unauffällig den Firmennamen auf dem Namensschild erhaschen möchte (was übrigens in den seltensten Fällen unauffällig ist). Dann wird man manchmal zum Kaffee eingeladen, meistens aber höflich abserviert. Derartige Demütigungen mag man sich als Besucher verständlicherweise gerne ersparen.

Jetzt wäre es freilich naiv zu denken, eine Messe oder Konferenz wäre prinzipiell der richtige Ort für zweckfreie Kommunikation. Marketingmaßnahmen (wie ein Messestand) zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass die Kommunikation instrumentell eingesetzt wird. Das muss aber trotzdem noch nicht bedeuten, dass der Erfolg einer Messeteilnahme einzig an der Anzahl getauschter Visitenkarten oder der Menge ausgefüllter Leadbögen zu bemessen ist. Schließlich ist die Größe unserer Branche nicht nur überschaubar, sondern wird bisweilen gar als inzestuös beschrieben: jeder hat irgendwann mit jedem zu tun. Zwei Karriereschritte später ist man dann plötzlich nicht mehr Anbieter, sondern Kunde. Wohl dem, der keine Brücken hinter sich eingerissen hat!

4. Research is a people business

Und damit zurück zur Frage, warum man überhaupt noch auf Messen und Konferenzen gehen sollte, wenn Networking immer schon unter Verdacht steht, nur auf den schnellen Vorteil aus zu sein. Winkt uns vor dem Hintergrund all dieser Schwierigkeiten eine virtuelle Zukunft, in der man sich wenigstens nicht mehr aus dem Büro begeben muss, um den Kontakt mit anderen Besuchern zu vermeiden? In der man seine Impulse ohnehin eher aus dem Internet bezieht, ganz bequem am eigenen Schreibtisch? Dafür spricht dann doch überraschend wenig!

Denn obwohl viele Konferenzen mittlerweile direkt Livestreams von den Vorträgen anbieten und sie nachträglich frei ins Netz stellen, bleiben die Besucher nicht fern. In Wirklichkeit geht es bei den Events nämlich gar nicht um die Inhalte, sondern um die Erfahrung von Resonanz – und dafür muss man immer vor Ort anwesend sein. Konkret: man kann selbst beobachten, wie sich andere Teilnehmer verhalten, aber man kann auch selbst von anderen beobachtet werden. Wie reagieren andere Besucher auf bestimmte Themen? Welche Stimmung herrscht in der Branche? Was treibt meine Fachkollegen um? Genau dieses Wechselspiel zwischen “eigene Beobachtungen machen“ und “dabei beobachtet werden“ macht die Dynamik jeder Veranstaltung aus. Das Workshop-Programm ist dabei, wie vieles andere auch, nur der Kontext für diese Beobachtungen; ein Kern an dem die Befindlichkeiten der Branche kondensieren können.

Und so werden wir am Ende auch bei der bevorstehenden Research&Results in München ganz praktisch darüber entscheiden, was unsere Branche eigentlich darstellt. Welche Themen uns mitreißen, und welche Fragestellungen uns kalt lassen. Ob wir einander verschüchtert und misstrauisch begegnen, oder ob wir eine offene und neugierige Branche sind. Ob am Ende die Leads zählen oder der Aufbau vertrauensvoller Beziehungen. Kurz: es zeigt sich alles so, wie es in der Marktforschung halt gerade der Normalfall ist. Und das kann man eben immer nur dann erleben, wenn man auch selbst dabei ist. In diesem Sinne: die Teilnahme lohnt sich, wirklich! Machen Sie das Beste daraus.

Dieser Artikel ist zuerst auf marktforschung.de erschienen.