Manches Unternehmen alten Schlags gleicht einer Lochkamera, bei der das Management – wahlweise die betriebliche Marktforschung – die Linse zur Welt ist. Durch ein winziges Loch gelangt Licht ins Innere und projiziert dort ein scharfes Abbild der Außenwelt.
Die Metapher der Lochkamera steht in einer langen philosophischen Tradition und dabei meist sinnbildlich für den Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewusstsein. So vielleicht auch hier: schon die verwandte Bezeichnung Camera Obscura weist darauf hin, dass die Wirkweise auf Dunkelheit im Inneren der Kamera beruht. Man kann dort nur sehen, weil alles andere abgeblendet ist; und das, was man sehen kann, wird alleine an der Linse entschieden. Je kleiner die Linse, desto schärfer das Bild. Licht dagegen, das an der Linse vorbei ins Innere führt, trübt das Abbild und sorgt dafür, dass man am Ende gar nichts mehr sehen kann. Insofern war es eine wichtige Aufgabe von Management (bzw. betrieblicher Marktforschung), hoheitlich darüber zu bestimmen, welche Fakten überhaupt zulässig sind und ins Innere gelangen dürfen.
Dieser Befund lässt sich schön am historischen Begriff “Management Summary” nachvollziehen. Hier zeigt sich einerseits, dass Marktforscher ihre Informationen immer gerne mit dem Signum der Exklusivität ausstatten wollten (Management: “nur für VIPs, streng vertraulich”), andererseits, dass man bereits mit der Bündelung von Informationen an der Linse rechnet: Als Forscher hätte man ja immer mehr zu erzählen gehabt, als das Management hören wollte oder konnte (Summary: “also fassen Sie sich kurz”).
Wie überholt dieses Modell mittlerweile ist, zeigt sich besonders deutlich beim Blick auf die “Digital Natives” unter den Unternehmen, das heißt Firmen mit Geschäftsmodellen, die Marktdaten nicht mehr nur zum gelegentlichen Realitätsabgleich benötigen, sondern ihre komplette Wertschöpfung auf digitalen Daten aufbauen: Google, Facebook oder Amazon. Es wäre offensichtlich absurd, alle Informationen, mit denen Mitarbeiter solcher Unternehmen in Berührung kommen, durch Marktforscher oder das Management absegnen lassen zu wollen. Die Zeiten der Exklusivität sind vorbei. Daten und “Insights” sind allgegenwärtig!
In dieser Entwicklung deuten sich grundsätzlich neue Verhältnisse für unsere Branche an. Ein erster Punkt betrifft die Frage, an wen wir uns in Zukunft eigentlich richten wollen – nur das Management oder potenziell alle Mitarbeiter eines Unternehmens? In den vergangenen Jahren haben sich viele Institute aus guten Gründen einen gediegenen Anstrich von Business Consultants verliehen. Wenn man dagegen die breite Belegschaft seiner Kunden in den Blick nimmt, scheint eine eher hemdsärmelige und praxisnahe Positionierung genauso plausibel. Unsere Zielgruppen werden in jedem Fall vielfältiger.
Damit verbunden ist die Frage, wie sich Insights in die Praxis übersetzen lassen werden. In der Camera Obscura war Wissen noch Macht: Wer im Besitz der Fakten war, konnte völlig legitim die Erfüllung entsprechender Arbeitsaufträge verlangen. Auf die Management Summary folgen bekanntlich Handlungsempfehlungen. Wenn allerdings jeder Mitarbeiter seine alltäglichen Aufgaben ohnehin mit Daten unterfüttert, – weil es in digitalen Unternehmen auch gar nicht mehr anders geht –, braucht es bei strategischen Richtungsänderungen einen Dialog. Der direktive Führungsstil weicht hier dem sogenannten Change Management. Die Zeichen stehen auf Partizipation.
Schließlich hat sich aber auch das Verhältnis von Marken zu ihren Kunden grundlegend geändert. Etwas überspitzt formuliert wurde die Aufgabe von Marketing lange Zeit so verstanden, dass es Kunden für ein bestehendes Produkt schaffen muss. Heute hat sich das Paradigma genau umgekehrt: Unternehmen versuchen Produkte für ihre Kunden zu schaffen. Ohne hier näher auf Co-Creation oder User-Centred-Design eingehen zu wollen, zeigt sich, dass das Loch der Camera Obscura im Laufe der Zeit zu klein geworden ist, um all das Kundenfeedback angemessen in die Produktentwicklung tragen zu können. Erfolgreiche Unternehmen zeigen Offenheit.
Worum geht es also? Diese Andeutungen auf die Durchlässigkeit moderner Unternehmen enthalten wertvolle Hinweise auf die grobe Entwicklungsrichtung für unsere Branche. Zwar scheint das alte Selbstbild, – Marktforschung als Guckloch in die Welt –, nicht mehr zu stimmen, doch die Anschlussmöglichkeiten sind zu vielfältig, um hier den Abgesang auf unsere Branche anzustimmen: Datenintegration, statistische Analyse, Dashboards, Strategieberatung, Ideen-Workshops oder Coaching von Datennutzern – unser Betätigungsfeld ist vielseitig, wie noch nie. Wahrscheinlich müssen wir uns also daran gewöhnen, dass die Einheit der Marktforschung als Branche nicht mehr über eine gemeinsame Tätigkeit definiert ist, sondern – ja, wodurch eigentlich?
Das Geschäftsmodell unserer Branche ist Unabhängigkeit und Objektivität. Das trifft auch – unter erschwerten Bedingungen – auf betriebliche Marktforscher zu. In offenen Unternehmen sind Deutungskonflikte jedenfalls vorprogrammiert und genau darum braucht es Schiedsrichter oder Mediatoren, die kritisch mit Sozialdaten umgehen können und um die Grenzen ihrer Belastbarkeit wissen. Gewöhnen wir uns also ruhig daran, dass auch andere Licht ins Dunkel bringen werden. Für uns bleibt dann immer noch genug zu tun.
Dieser Artikel ist zuerst auf markforschung.de erschienen.