Nichts ist schlimmer, als Forschungsergebnisse, – also Beschreibungen der Realität –, mit der Realität selbst zu verwechseln. Millenials zum Beispiel kommen ohne Etikett und Beipackzettel auf die Welt. Ihre Werte und Einstellungen sind nicht schon bei der Geburt vorgegeben. Ja, sie haben sogar, in Anlehnung an die Marx’sche Terminologie, nicht einmal ein richtiges Bewusstsein als Kohorte. Millenials sind deshalb auch nicht die Realität, sondern nur ein Beschreibungsmodell, das sich in bestimmten Kontexten des Forschens bewährt hat. Immerhin!
Dieser Unterschied zwischen der Realität und ihren Beschreibungen bedeutet zweierlei: erstens wird der Blick frei für die Vielfalt der zulässigen Erklärungsmodelle. Alles, was auf dieser Welt passiert, kann so oder auch anders beschrieben werden. Deshalb darf eigentlich keine Beschreibung absolute Geltung beanspruchen. Zweitens sollte man sich die Frage stellen, wie Forschungsergebnisse genau deshalb mit Gründen dafür ausgestattet werden müssen, nämlich, dass sie die Wirklichkeit adäquat beschreiben und nicht beliebig oder gar irrelevant sind. Wie entkräftet man die Zweifel von Kritikern, noch bevor sich diese überhaupt zu Wort melden können?
Man wird hier ohne Umwege in eine Methodendiskussion versetzt, die die Praxis des Forschens ernst nimmt und mit einem allzu naiven Realismus bricht. So kann man sich zum Beispiel ruhig einmal ansehen, wie sich die verschiedenen Anbieter von Software in der Forschungspraxis voneinander unterscheiden. Macht es denn überhaupt einen Unterschied, ob ich Confirmit, LimeSurvey oder Questback zur Datenerhebung verwende? Ob ich meine Daten mit R, SPSS oder Tableau auswerte? Ob ich meine Erkenntnisse mit Powerpoint-Charts oder in einem Onlinedashboard berichte? Und wenn es einen Unterschied macht (wovon stark auszugehen ist), worin genau besteht er?
Es ist schade, dass diese Diskussion nicht mit methodologischen Argumenten geführt wird. Stattdessen wird so getan, als käme es unterm Strich alleine auf die Benutzerfreundlichkeit der Software an, die auf wundersame Weise losgelöst von der Güte ihrer Ergebnisse ist. Dabei wird gerne vergessen, dass die Handhabung von Werkzeugen erheblichen Einfluss darauf nimmt, wie komplex Projekte sein dürfen, die mit ihnen gerade noch bewältigt werden können. Denn am Ende zeichnet sich der praktische Wert von Forschung vor allem dadurch aus, komplizierte Sachverhalte auf einfache Formeln zu bringen. Kein Forschungsergebnis ist komplexer als die Realität!
Und damit stecken wir mitten in einem Erklärungsmodell für die Praxis des Forschens. Ob man bei einer Software mit einer graphischen Oberfläche oder Syntax arbeiten kann, ist nicht nur eine Frage des persönlichen Gusto, sondern reflektiert auch den Grad an Komplexität, der sich aus der Fragestellung ergibt beziehungsweise den man durchschnittlich qualifizierten Forschern überhaupt zumuten kann. Je komplexer die Welt jedoch wird, desto höher werden auch die Anforderungen an Tools und Methoden, die uns bei der Anfertigung verständlicher Beschreibungen der Realität helfen. Insofern ist es auch nur angemessen, wenn verschiedene Programme unterschiedliche Problemstellungen abdecken.
Muss sich Forschung also den Vorwurf gefallen lassen, die Welt immer nur durch die rosarote Brille ihrer Methoden wahrzunehmen? Vielleicht. Man kann es aber auch anders sehen: Der Soziologe Hartmut Rosa hat jüngst darauf hingewiesen, dass Schuhe dafür verantwortlich sein könnten, dass wir in der Menschheitsgeschichte von einem partizipativen zu einem distanzierten und objektivierenden Weltverhältnis gelangt sind: die Schuhsohle wirkt als Puffer zwischen uns und dem Untergrund und bringt uns auf Distanz zur Welt. Ganz analog vermittelt auch Forschung zwischen uns und der Welt, indem sie Komplexität abfedert. Unsere Aufmerksamkeit wird entlastet und erlaubt uns das Wesentliche in den Blick zu nehmen. Was genau das Wesentliche ist, wird vom Auftraggeber und seiner Problemstellung vorgegeben; über die passenden Filter und Weichzeichner entscheidet der Forscher.
Wer sich also abschließend die Frage stellt, ob man die Welt nicht auch ganz anders sehen kann, sollte sich einfach einmal im Dienste der Wissenschaft eine Sonnenbrille aufsetzen und die nackten Füße ins Gras stellen. In diesem Sinne einen schönen und erkenntnisreichen Sommer!
Dieser Artikel ist zuerst auf marktforschung.de erschienen.