Als ich vor etwa zehn Jahren meine ersten Gehversuche in der Marktforschung unternahm, waren nicht viel mehr als ein Laptop und ein Gründungskunde notwendig, um die eigene Forschungsagentur aufzusperren. Die kleinsten Institute hatten die größten Webseiten, auf denen Freelancer oder Felddienstleister liebevoll als “Partner im Forschungsverbund” bezeichnet wurden. Die Hoffnungen lagen auf Open Source-Software wie Limesurvey, PSPP, R oder Open Office. Und weil die logistischen Herausforderungen des Forschens langsam schwanden, zählten nun vor allem die persönliche Erfahrung und das fundierte Wissen des Marktforschers, der die Kunden unbescheiden zu allen Fragen der Geschäftswelt beraten wollte. Full-Service als One-Man-Show quasi. Die Branche jedenfalls flimmerte farbenfroh zwischen Größenwahn und Goldrausch und ich war Feuer und Flamme, ein echter Marktforscher zu werden.
Die Welt der Marktforschung ist seitdem bedenklich anders geworden. Die unterschiedslose Verfügbarkeit von grundlegender Forschungstechnik hat leider nur vorrübergehend für mehr Teilhabe gesorgt und gereicht mittlerweile kaum noch zum Wettbewerbsvorteil. Vorbei das goldene Zeitalter der Forschungs-Garagen: wer heutzutage erfolgreich sein möchte, braucht Reputation oder Spitzentechnologie. Und dafür kommt es in beiden Fällen besonders auf die Unternehmensgröße an. Kein Wunder also, dass sich gerade jetzt die Branche konsolidiert, die Preise verfallen und so nach und nach die kleineren Institute verdrängt werden. Wohl denen, die in den letzten Jahren ihre Abhängigkeit von einzelnen Großkunden überwunden haben und kein tristes Dasein als Forschungsklitsche mehr fristen, denn in kleinen Betrieben ist das einzige Gegengift für Kostendruck die Selbstausbeutung.
Kein Strukturwandel jedoch ohne Verlierer! Diesmal scheinen die Synergien vor allem die altgedienten Forscher zu treffen: während man noch vor einer Dekade aus der Not fehlender Jobs eine Tugend machen konnte, ist der erfahrene Einzelunternehmer heute zum Auslaufmodell geworden. Und so fallen die alten Hasen nicht nur den Stellenstreichungen der Merger zum Opfer, sondern auch dem Chancenmangel eines gründungsfeindlichen Marktumfelds. Ihre Forschungsprojekte dagegen wurden längst von fachlich blassen Berufseinsteigern übernommen, deren fehlende Erfahrung schon deshalb keine Rolle spielt, weil in der kostenoptimierten Fließbandfertigung von Insights ohnehin kein Platz mehr für Individualleistungen ist. Auch die jüngere Forschungsgeneration profitiert also nicht von der gegenwärtigen Entwicklung.
Gerade deshalb sollten wir uns auch zweimal überlegen, worüber es sich bei diesem Wandel zu empören lohnt. Das Problem ist eben nicht der Nachwuchs, der mit den erfahrenen Forschern um Beschäftigung konkurriert. Und auch die Verdrängung kleinerer Institute durch große Unternehmen ist nur ein Symptom des Wandels. Der eigentlich gravierende Umbruch dieser Zeit besteht vielmehr darin, dass das Erfahrungswissen des Forschers in großem Stil durch Prozesswissen ersetzt wird. Oder, mit anderen Worten, dass Marktforschung derzeit nicht nur standardisiert, sondern darüber hinaus bis zur Unkenntlichkeit entqualifiziert wird. Die ehemals genuinen Forschungsleistungen sind zu vorgefertigten Modulen verkommen, möglichst schnell und preiswert kombinierbar, ohne die Expertise von Mitarbeitern oder Kunden beanspruchen zu müssen. Insofern ist dann auch das, was Zappistore und Konsorten aktuell mit beeindruckendem Können zur Perfektion führen, nur die Fleischwerdung dieser eierlegenden Wollmilchsau, die von einem Großteil unserer Branche mit organisatorischen oder technischen Mitteln angestrebt wird.
Kann man das aber überhaupt noch Forschung nennen, wenn Ergebnisberichte so unterschiedslos in Serie produziert werden, als hätten alle Auftraggeber die gleichen Fragen? Wo ist unser Blick für die unverwechselbaren Besonderheiten unserer Kunden geblieben? Wo ist die Lust auf echte Erkenntnis? Wie viel Genialität, Kreativität und manchmal auch Improvisationskunst leisten wir uns überhaupt noch, um einzigartige Wege zu beschreiten? Und mit welchem Recht darf ein Auftraggeber erwarten, individuell betreut und nicht gleich mit vermeintlichen Konkurrenten über einen Kamm geschert zu werden? Mit Forschung im eigentlichen Sinne hat das wohl alles nicht mehr viel zu tun: Umsätze werden heutzutage eben leichter mit klar benennbaren Projektschritten gemacht, als mit der unwägbaren Erfahrung eines Forschers und dessen angeblicher Kenntnis des Forschungsstandes, oder? Prozess schlägt Qualifikation!
Machen wir uns deshalb also bitte nichts mehr vor: die goldenen Jahre der kommerziellen Markt- und Sozial-Forschung sind vorbei! Dafür glauben wir zu sehr an die Versprechungen der neuen Technologien, die ungeahnten Innovationspotenziale, die enorme Effizienz des Projektmanagements und die infinite Skalierbarkeit unserer Geschäftsmodelle. Forscher verkommen so zu anonymen Messtechnikern, die wie willenlose Zombies nur von dem leben, was andere im Kopf haben. Wenn wir uns aber irgendwann doch noch besinnen, dass es in der Marktforschung auf persönliche Qualifikation ankommt, ist es hoffentlich nicht bereits zu spät. In diesem Fall nämlich hätten nicht nur die klugen und praxiserprobten Köpfe entmutigt ihren Beruf gewechselt, sondern unsere gesamte Branche hätte sich der Illusion geopfert, echte Forschungsergebnisse in Masse produzieren zu können.
Dieser Artikel ist zuerst auf marktforschung.de erschienen.